FuPa.net | Über 500 Tore: Tina Ruh, die Wormatia-Wunderstürmerin

27.01.2022

Trotz zweier Kreuzbandrisse holte die Torjägerin neun Torjägerkanonen ++ Schritt ins Profigeschäft ging sie nie

WORMS. Der Ball kam von rechts, in ihrem Gedächtnis hat sich das eingebrannt. Als es passierte, stand Tina Ruh, heute 35, in der ureigenen Komfortzone. 16-Meter-Raum, ihr Revier. Hunderte Male hatte sie hier aus allen denkbaren Lagen heraus den Ball ins Netz bugsiert, stoppen konnte sie niemand. An diesem Tag aber, im Juni 2019, sollte alles anders sein.

Beißen, zurückkämpfen, ohne Fußball geht es nicht

Ihr damaliger Klub, der pfälzische FC Marnheim, feierte sein 100-jähriges Bestehen. Riesen-Gaudi, Bierzeltstimmung, Showeinlage. Die FC-Frauen kickten ein bisschen untereinander, "es war nichts Großes, ganz locker", erinnert sich Ruh. Dann geschah es. Der Ball kam in die Mitte, sie holte aus, trat in den tiefen Rasen. Zum zweiten Mal zerriss es ihr das Kreuzband, diesmal rechts. Auch der Meniskus zersplitterte. Was ihre Gegnerinnen nie schafften, erledigte also das Geläuf: Ruh, die mit 40 Verbandsliga-Treffern gerade ihre neunte Torjägerkanone abgestaubt hatte, war aus dem Spiel. Für Monate.

Arzt "wusste, dass ich nicht aufhöre"

Später riet ihr Arzt der Vollblut-Stürmerin, den Fußball lieber sein zu lassen. Zu riskant sei das, gar nicht vernünftig. Was Ruh aber machte: immer weiter. "Er hat mich gekannt", sagt sie mit einem Lachen, "er wusste, dass ich nicht aufhöre. Der Gedanke war kurz da. Aber ohne Fußball geht's halt nicht." Heute, zweieinhalb Jahre später, steht das blonde Sturmwunder wieder auf dem Rasen, Anfang 2020 zurückgekehrt zur Wormatia, wo ihre Karriere so richtig Fahrt aufnahm. Ruh ist aktuell die beste Schützin des VfR. In der Regionalliga traf sie in neun Spielen sieben Mal - im zarten Alter von 35 Jahren.

"Habe mich selbst gepusht"

Einen Text wie diesen beginnt man eigentlich nicht mit ungemütlichen Erinnerungen. Mit einem Knieschaden, dem Albtraum aller Fußballer, dem Keim sportlicher Invalidität. Karriereende, das Aus. Bei Tina Ruh aber ist das anders. Alles, was nach diesem Kreuzbandriss kam, spiegelt nicht nur ihre Laufbahn, sondern auch ihren Charakter auf dem Feld wieder. Wie man aufsteht, auf die Zähne beißt, sich zurück ins Sportlerleben kämpft. Wie man nach zwei schweren Verletzungen trotzdem noch gegnerische Abwehrreihen pulverisiert. "Ich habe mich selbst gepusht. Wollte unbedingt spielen.

Das hieß: jeden Tag Aufbautraining, jeden Tag Stabi-Übungen", erzählt sie. Wenn man will, dann klappe das. Es sind nicht die Tore, die sie ausmachen. Es ist ihre Art zu spielen, ihr eiserner Wille, der Tore als logische Konsequenz nach sich zieht. "Ihre Qualitäten lassen sich nicht an der Quote festmachen. Die Spielweise ist es, wie sie sich aufopfert. Sie schont nicht, nicht einmal im Training", erklärt Svenja Bross, seit Sommer Trainerin der Wormatia.

Und trotzdem: Wenn Tina Ruh eines kann, dann Tore schießen. So gut wie keine andere. Ruh ist, das darf man so festhalten, die beste Stürmerin, die jemals im Südwesten aufgelaufen ist. Bei den Jungs ging das los, in der Jugend der TuS Neuhausen. Das schmächtige blonde Mädchen stahl ihnen die Show, es traf öfter als die Kameraden. Als Ruh 2010 in die Pfalz nach Marnheim wechselte, hatte sie für die Wormatia in zwei Bezirksliga-Saisons 107, in 26 Verbandsliga-Spielen dann 38 Mal geknipst. Ihre phänomenale Bilanz: 332 Tore - in nur acht Verbandsliga-Spielzeiten.

2015 holte sie mit 30 Treffern sogar den goldenen Schuh in der Regionalliga. Wie das möglich ist? "Anscheinend wurde mir das in die Wiege gelegt", vermutet Ruh. "Ich lebe für den Fußball." Noch heute gilt: Wenn die Wormserin antritt, kommt kaum jemand hinterher. Ihr Tempo ist ihre Versicherung, ihr rechter Fuß ihre Waffe.

Profi? "Hätte zu viel aufgeben müssen"

Es sind Traumwerte im eigenen Portfolio, die Ruh in über 15 Jahren gesammelt hat. Natürlich, man muss auch kritisch hinterfragen: Warum ist sie nie über die Regionalliga hinaus in Erscheinung getreten? Wieso hat sie nicht die Profi-Laufbahn eingeschlagen, sich in der großen Fußballwelt probiert? Die Voraussetzungen waren bestens. Wenn Ruh sich aber erklärt, klingt es so banal wie logisch: "Ich hätte zu viel aufgeben müssen. Meine Arbeit, meine Freunde, das ganze Leben."

Es habe sie einfach nie in die Ferne gezogen. Der Reiz war da, ja. Angebote lagen ihr mindestens vier vor, unter anderem aus Hoffenheim und von der Frankfurter Eintracht. "Aber am Ende bin ich glücklich, wie es gelaufen ist. Ich wollte nie weg aus der Heimat, das hat sich immer angefühlt wie Familie." Bei der Wormatia fing es an - und hier soll es enden. Irgendwann, in ein paar Jahren, wenn sie nicht mehr könne.

Noch immer eine der schnellsten

Svenja Bross, 31, sagt über Tina Ruh, sie habe selten so eine Stürmerin gesehen. Und Bross hat viel gesehen, immerhin war sie Co-Trainerin beim Zweitligisten in Niederkirchen. "Spiele kann sie im Alleingang entscheiden. So, wie sie ihre Tore macht, würde ihr das auch noch in höheren Ligen gelingen", glaubt Bross. Die Leute im Verein sagen über sie, sie sei immer noch eine der Schnellsten, renne allen davon. Und was sagt Ruh, die Tormaschine, selbst? Sie lacht. "So ein paar Jungen kann ich noch was vormachen." Auch mit 35 Jahren und nach zwei Kreuzbandrissen.